Agile Unternehmenskultur

Alles agil, alles gut?

Sind sie schon VUCA oder leben sie noch?

Erhard Semlitsch

Offensichtlich liebt es die Menschheit Akronyme zu erfinden, diese zu hegen und zu pflegen und anschließend als den nächsten großen Meilenstein in der Menschheitsentwicklung erfolgreich wirtschaftlich auszuschlachten. Oder ist Ihnen noch gar nicht bewusst, dass heutzutage (nahezu) alles im Leben des Homo Sapiens VUCA ist? Gedanken zur VUCA-Welt für all jene, die es (noch gar) nicht bemerkt haben bzw. (noch) nicht so akronym-affin sind.

VUCA wird aus den englischen Begriffen volatility, uncertainty, complexity und ambiguity – zu Deutsch Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität, Mehrdeutigkeit – gebildet und beschreibt schwierige Rahmenbedingungen in der Projekt- bzw. Unternehmensführung.

Der Begriff entstand in den 1990er Jahren in einer amerikanischen Militärhochschule und diente zunächst dazu, die multilaterale Welt nach dem Ende des Kalten Krieges zu beschreiben. Später breitete sich der Begriff auch in andere Bereiche der Führung und auf andere Organisationen aus, vom Bildungsbereich bis in die Wirtschaft und ist auf dieser Reise auch in unserer Welt der Projekte angekommen, denn derzeit scheint es beinahe keine Projektumwelt zu geben, die nicht VUCA ist.

Da ist es natürlich nur recht und billig mit einer entsprechenden Organisationsform darauf zu reagieren – nämlich mit der AGILEN Projektorganisation. Aber was bedeutet das schon wieder?

Das Agile Manifesto

Siebzehn projekterfahrene Softwareentwickler verabschiedeten im Frühjahr 2001 das sogenannte „Manifesto for Agile Software Development“, heute unter der Kurzbezeichnung „Agile Manifesto“ bekannt. Die Erstunterzeichner, darunter auch die beiden Scrum-Begründer Ken Schwaber und Jeff Sutherland sowie Ward Cunningham, der Erfinder der freien Wiki-Software WikiWiki-Web, formulierten mit dem Agile Manifesto erstmals die zentralen Werte agiler Softwareentwicklung – und zugleich das Fundament des AGILEN Projektmanagements. Festgelegt wurden darin allgemeinverbindliche Leitsätze.

„Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte schätzen gelernt:

  • Menschen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen
  • Funktionierende Software steht über einer umfassenden Dokumentation
  • Zusammenarbeit mit dem Kunden steht über der Vertragsverhandlung
  • Reagieren auf Veränderung steht über dem Befolgen eines Plans

Das heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden, schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.“

Übrigens, das spannende Thema der Agilität beschäftigt die Menschheit nicht erst seit heute: Heraklit von Ephesos (um 520 v. Chr. bis um 460 v. Chr.), vorsokratischer Philosoph aus dem ionischen Ephesos, postulierte: „Alles fließt und nichts bleibt. Nichts ist so beständig wie der Wechsel. Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung.“ Friedrich Engels (1820-1895), deutscher Philosoph, Gesellschaftstheoretiker, Historiker, Journalist, kommunistischer Revolutionär und erfolgreicher Unternehmer in der Textilindustrie, prophezeite: „Das einzig Beständige ist der Wandel.“ Engels verfasste überdies im Jahre 1848 gemeinsam mit Karl Marx im Auftrag des Bundes der Kommunisten das Kommunistische Manifest. Also auch die Idee eines Agile Manifesto ist nicht wirklich etwas bahnbrechend Neues …

PMCC Agile Unternehmenskultur: Agiles Manifest als Wertesystem

Agiles Manifest als Wertesystem, Quelle: agilemanifesto.org

Was bedeutet also nun AGIL in der Projektpraxis?

Bemühen wir zuallererst den guten, alten, anerkannten Duden, so finden wir darin kurz und knapp folgende Beschreibung: „von großer Beweglichkeit zeugend; regsam und wendig“. Agil kommt vom lateinischen Begriff „agere“ und bedeutet machen, tun, handeln. Ich persönlich habe diesen Begriff auch kennengelernt als respektvolle Beschreibung älterer Menschen, die bis ins hohe Lebensalter große körperliche und geistige Beweglichkeit an den Tag legen.

Agil scheint mittlerweile von einem Trendbegriff zu einem Massenbegriff mutiert zu sein, der sehr inflationär in jedem nur denkbaren Projektkontext verwendet wird. Methoden und Instrumente werden eingeführt, die mehr Agilität verheißen, man „benchmarkt“ den Mitbewerb, der (scheinbar) schon lange agil arbeitet, kopiert einige wichtige Agilitätsmerkmale und denkt sich dabei: „Funktioniert bei uns sowieso nie!“ Manche Projekte leisten sich auch schon einen Kreativraum und liefern sich darin unzählige und endlose Powerpoint-Schlachten. In vielen Unternehmen und Projekten gilt der Begriff auch als Synonym für flexibel, proaktiv, antizipativ, initiativ und man meint damit das hoffnungsvolle Gegenstück gefunden zu haben, um aus der tiefen Frustration über die eigene starre, verkrustete Aufbau- und Ablauforganisation herauszukommen. Dabei ist Agilität keine Methode, sondern vielmehr eine Geisteshaltung, eine Kultur, die geprägt ist von Transparenz, Dialog, Vertrauen, Ausprobieren, Lernen und vielen unmittelbaren, zeitnahen Rückmeldeschleifen.


Agilität
kann nicht einfach in ein traditionelles Unternehmensumfeld „hineinkopiert“ werden. Die tägliche, agile Führungsarbeit braucht den Rahmen, der Agilität fördert, erlaubt, unterstützt und belohnt.


Nur kann Agilität nicht einfach in ein traditionelles Unternehmensumfeld „hineinkopiert“ werden, ohne dabei auch die entsprechende Weiterentwicklung der Unternehmens- und Projektkultur voranzutreiben, die dann auch wirklich gelebt werden muss – und dabei haben Führungskräfte einen erheblichen Anteil. Gestern mit Gantt-Charts zu planen und heute Scrum zu praktizieren funktioniert nicht – oder lernen Sie automatisch Skifahren, nur weil Sie Ihren nächsten Winterurlaub in einem „hippen“ Wintersportort in Österreich oder in der Schweiz verbringen?

Agilität ist Teil der Unternehmenskultur und wird so zur Projektkultur. Die tägliche, agile Führungsarbeit braucht den Rahmen, der Agilität fördert, erlaubt, unterstützt und belohnt. Zuerst müssen agil-denkende Menschen rekrutiert werden, im Anschluss agile Lern- und Entwicklungsumgebungen aufgebaut und entsprechende Gehalts-, Arbeitszeit- und Performance Management-Modelle eingeführt und ernsthaft umgesetzt werden. Agilität ist keine Methode, sondern ein Portfolio aus Prinzipien, das traditionelle Entscheidungs- und Machtstrukturen in Frage stellt oder vielleicht sogar obsolet macht. Damit ist Agilität auch nicht immer „friktionsfrei“ in der Projektpraxis umsetzbar.

Der agile Mensch

Nachdem wir bereits über agile Organisationen und agile Führungskräfte gesprochen haben, kommen wir nun zum wichtigsten Baustein der Agilität, dem agilen Projektteammitglied (= Mensch).

Bitte erwarten Sie von ihren Projektteammitgliedern nicht, dass sie sich aus dem Stand heraus agil zeigen, sich flexibel anpassen, um 180 Grad drehen und ihre Normen und Werte wechseln, wie ihre Unterwäsche. „Wer nicht passend ist, wird passend gemacht!“ funktioniert Gott sei Dank bei Menschen nicht, denn sie brauchen die Balance zwischen Stabilität und Agilität.

Agilität bedeutet jedenfalls sicher nicht, jeden Tag ständigen Anpassungsdruck zu erleben und keine Zeit zum Durchatmen zu haben, da eine Veränderung schon die nächste jagt und die Agilitäts-Endlosschleife läuft: Gerade wusste man im Projekt noch, wo‘s langgeht, schon kommt wieder was Neues. Dieser manchmal einfach nur verrückte Agilitätswahn tut nicht einmal jenen Menschen gut, die grundsätzlich flexibel und anpassungsbereit sind.


Glatte Pisten sind in der VUCA-Projektumgebung ein Wunschtraum, die Agilitäts-Buckelpiste aber die Realität – und die wirft manche Projektteammitglieder voll aus der Bahn.


Nur: Wie viel Agilität halten Ihre Projektteammitglieder aus? Und was passiert, wenn die kritische Marge überschritten wird? Grundsätzlich ist der Mensch ein Gewohnheitstier. Er liebt die Routine und die Wiederholung, denn das ist viel kraftsparender, als ständig im Gehirn neue neuronale Verbindungen aufzubauen. Ständig mit Agilität konfrontiert zu werden, bedeutet für unser Gehirn, in unserem vorhin angesprochenen „hippen“ Wintersportort in Österreich oder in der Schweiz ständig mit hoher Geschwindigkeit auf der schwarz gekennzeichneten Buckelpiste unterwegs zu sein und dabei in alle Richtungen geschleudert zu werden. Gerade als man hoffte, dass es wieder etwas ruhiger zuginge, bringt einen der nächste Buckel so richtig schön aus der Balance. Jedes Mal muss man gegensteuern, um auf der Piste zu bleiben.

Glatte Pisten sind in der VUCA-Projektumgebung ein Wunschtraum, die Agilitäts-Buckelpiste aber die Realität – und die wirft manche Projektteammitglieder voll aus der Bahn. Daher hat unser Gehirn eine gewisse Agilitäts-Aversion eingebaut. Manche Agilitäts-Opfer leiden im Stillen, da in der agilen VUCA-Projektumgebung nicht öffentlich darüber gesprochen wird oder werden darf. Und sie glauben oft, es ginge nur ihnen allein so, während alle anderen gut damit zurechtkämen. Daher beißen sie die Zähne zusammen und schweigen, weil sie glauben funktionieren zu müssen. Manchmal haben Sie auch Angst davor, dass sie ihr Projektleiter oder ihre Projektteammitglieder als „Agilitätsbremse“ oder „Jammerer“ abstempeln.

Wie einige Studien zum Kontrollerleben von Menschen zeigen, wirken sich nicht vorhersehbare, nicht beeinflussbare oder gar bedrohliche Situationen nachhaltig (negativ) auf Stimmung, Motivation und Lernverhalten (Stichwort: Lessons Learned) aus. In der Projektpraxis bedeutet dies: keine Lust zum aktiven Handeln und sich niedergeschlagen in einer Ecke verkriechen. Selbst wenn man noch etwas tun könnte, um die Lage zu verbessern, wird es nicht mehr ausprobiert, weil man denkt „es bringt eh nix mehr!“ Bei manchen Menschen kann so eine Situation sogar Stressreaktionen auslösen, die sie mittel- und langfristig psychisch und körperlich krank machen. Agilitätsprozesse sind psychologisch gesehen nicht genau vorhersehbare, nicht beeinflussbare und manchmal bedrohlich wirkende Situationen und somit durchaus eine harte Bandage für das menschliche Gehirn und weitergedacht auch für den restlichen Körper.

Verkauft wird Agilität meist als positive Chance – für manche Projektteammitglieder fühlt sich das jedoch (ganz) anders an. In diesem Sinne beherzigen Sie bitte den ersten Leitsatz aus dem Agile Manifesto: Menschen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen.

Tipps

  • Geben Sie sich und Ihren Projektteammitgliedern die Zeit und die Chance, die tatsächlich benötigte Agilität in Ihrem Projekt zu erkennen, zu verstehen und im Rahmen der täglichen Projektarbeit umzusetzen, um sich nicht „kaputtanzupassen“.
  • Leben Sie als Projektverantwortlicher Ihren Projektteammitgliedern vor, was Sie mit Agilität meinen, denn Vorbildwirkung ist immer noch eine der besten Lernmethoden, um bei anderen Menschen eine Verhaltensänderung hervorzurufen.
  • Auch hier handelt es sich wieder einmal um einen Reifeprozess, der nicht beliebig beschleunigbar ist!
  • Hausverstand hilft auch hier wieder bei der Umsetzung!
  • Über Wirkung und Nebenwirkungen beim Einlassen auf Agilität fragen sie daher niemals Ihren Arzt oder Apotheker, sondern immer nur sich selbst!